TAZ - Verwischte Schatzkarte
TAZ,3.5.2012, TAZ Nord, Seite 23 Verwischte Schatzkarte AKTUELLE MUSIK Komponiertes und Improvisiertes, Analoges und Elektronisches, Unerhörtes und neu Interpretiertes: Zwei Wochen lang rückt das Hamburger Festival "blurred edges" die heterogene experimentelle Musikszene der Stadt ins Blickfeld VON ROBERT MATTHIES Nicht nur in Bezug auf das, was es mit den Ohren aufzuspüren gibt, muss man hier über all die klassischen Tugenden des Entdeckers verfügen: unstillbare Abenteuerlust, ein wenig navigatorisches Fingerspitzengefühl und jede Menge kartographische Geduld. Denn nicht nur akustisch sind die zumeist durchs undurchdringlich scheinende musikalische Unterholz führenden, oft abseitig beginnenden und noch häufiger abseitig endenden Pfade zeitgenössischer Musik in Hamburg auch für geübte Fährtenleser nur mit Mühe zu entdecken. Wer sich aber die Zeit nimmt, das weit verzweigte Archipel all der autonomen Inseln zwischen elektro-akustischer Klangkunst, radiophonen Essays, neophilen Laptopbasteleien, freier Improvisation und aktueller Komposition zu erkunden, wird mit einem großen Schatz belohnt: die lokale Szene ist so lebendig, innovativ und vielschichtig, wie ihre Aktivitäten und Treffpunkte für die meisten unbekannt bleiben. Eine echte Schatzkarte drückt deshalb das vor sechs Jahren vom Verband für aktuelle Musik Hamburg (VAMH) ins Leben gerufene Festival "blurred edges", das ab morgen zum siebten Mal in Folge stattfindet, allen musikalischen Entdeckern in die Hand. Denn nicht nur die lokale Szene selbst soll sich hier vernetzen, interne Abgrenzungen auflösen und Einkapselungen aufbrechen. Auch nach außen soll das dabei entstehende Klang-Korpus "unscharfe Ränder" bekommen: all die verschiedenen Aktivitäten der unterschiedlichen Protagonist_innen aktueller Musik sollen für zwei Wochen verdichtet, einem größeren Publikum bekannt gemacht und in einem größeren Rahmen präsentiert werden. Auch organisatorisch ist das Festival dabei den verwischten Rändern und unscharfen Grenzen verpflichtet. Bis heute ist wird es basisdemokratisch und ohne zentrale künstlerische Leitung organisiert, der VAMH koordiniert Bewerbungen, Organisation und Pressearbeit, die zahlreichen unterschiedlichen Veranstalter - Musiker, Veranstaltungsräume oder -reihen - kuratieren ihr Festival aber selbst. Über 40 Veranstaltungen in gut zwei Wochen sind dabei auch in diesem Jahr zusammengekommen, 20 über die ganze Stadt verteilte Spielstätten vom Gängeviertel über den Golden Pudel Club und die Hörbar bis zur Hochschule für Musik und Theater präsentieren bis zum 19. Mai Komponiertes und ergebnisoffen Improvisiertes, analoge und elektronische Klänge, Field-Recordings, Soundart und Klanginstallationen, visuelle Musik und Ausstellungen, Vorträge, Vermittlungsprojekte oder Performances im öffentlichen Raum. Um dem Ganzen nicht die notwendige Unschärfe zu nehmen, sei hier aber nur auf eines hingewiesen: Nicht entgehen lassen sollte man sich das "Blöde Orchester" von Michael Petermann alias Weisser Rausch: In seinem zugleich als Werkstatt und Konzertraum fungierenden Klangatelier im Medienbunker an der Feldstraße hat der Dirigent, Cembalist und Komponist in acht Jahren ein Sinfonieorchester aus rund 200 historischen Staubsaugern, Mixern, Ventilatoren und Waschmaschinen aufgebaut.