KLANG!-MAGAZIN 6 - let’s blur the edges
Einladung zum Umherschweifen von: Jorinde Reznikoff \“Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder minder lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungs-und Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des musikalischen Geländes und den von ihm entsprechenden Begegnungen zu überlassen… Vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städter ein psychogeographisches Hörprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen.\“ Im Sinne ihres Autors Guy Debord akustisch detourniert, ergibt diese situationistische \„Theorie des Umherschweifens \“ von 1956 (in Les Lèvres Nues, Nr. 9, Nov. 1956, in Situationistische Internationale. Der Beginn einer Epoche, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt und Roberto Ohrt, Edition Nautilus Hamburg, S.64) eine praktische Gebrauchsanweisung für Hamburger KonzertbesucherInnen, die Lust auf akustische Abenteuer haben.Ihnen und denen, die es jetzt werden könnten, eröffnet sich dergestalt ein erfrischend neuer Zugang zu blurred edges, diesem jeder Erkennbarkeit widerstrebenden, Festival unliken \„größten Musikfestival der Hansestadt\“, wie es auf seiner Homepage zu lesen ist. Blurred edges 2011 präsentiert innerhalb von 16 Tagen 38 Veranstaltungen in über die gesamte Stadt verteilten Spielstätten.\„Blurred edges – aufgeweichte Ecken/Ränder\“, sagt Heiner Metzger vom VAMH, \„hat etwas mit der Idee unseres Verbands zu tun. Unsere Idee ist entstanden als Perspektive, dass sich die verschiedenen noch für sich arbeitenden Szenen der aktuellen Musik in Hamburg, die Elektronikszene, die Improvisationsszene und aktuelle komponierte Musikszene vernetzen, auch wenn inzwischen das Wort durchaus schon andere Geschmäcker bekommen hat. Diese Abgrenzungen wollten wir auflösen und aus den Einkapselungen ausbrechen – und einen Austausch hinbekommen.\“ Dabei sei blurred edges der Versuch, diesem Vernetzungsansatz eine Präsenz nach außen zu geben, so Heiner Metzger. \„Obwohl es ja immer über einen längeren Zeitraum geht, haben wir uns auf den Begriff Festival geeinigt. Denn das ist ein eingeführter Begriff. Er repräsentiert Idee und Szene und macht damit die Aussage erkennbar. Damit kann es beworben und eine Öffentlichkeit geschaffen werden. Der Verband organisiert den Rahmen, koordiniert Bewerbungen, Terminabstimmungen, sorgt für Pressearbeit. Aber den Inhalt, die Konzerte organisiert jeder teilnehmende Veranstalter selber. Die Veranstalter sind MusikerInnen, Veranstaltungsorte und -räume, die solche Veranstaltungen schon länger organisieren und damit einen sehr breiten Blick auf die lokale und internationale Musikszene garantieren.\“ Das Namen gebende Prinzip der Grenzüberschreitung und Konturverwischung - nicht nur musikalisch-inhaltlich, sondern auch organisatorisch - setzt blurred edges seit seiner Gründung 2006 durch den Verband für aktuelle Musik Hamburg um: \„Der Konkurrenzsetzung zu anderen Festivals und der entsprechenden Messung an professionell organisierten Festivals wollen wir nicht entsprechen\“, führt Heiner Metzger weiter aus. Im Gedanken vorurteilsloser Vielstimmigkeit entzieht sich blurred edges definitiv headline- und konsequent empfehlungslos jeder simplen publizistischen Greifbarkeit. Als Heiner Metzger von einer NDR-Redakteurin in einem Interview nach einer Empfehlung gefragt wurde, habe er das verweigert. \„Denn in diesem Geflecht von autonom arbeitenden MusikerInnen wäre es unfair, eine Auswahl zu treffen.\“ An solch hartnäckiger Kantenlosigkeit könnte sich so manch einer stoßen. Oder aber, und das wäre befreiender, sie gerade als Einladung aufgreifen zum absichtslosen Umherschweifen in der Klanglandschaft Hamburgs. Damit gäbe er sich und den Tönen eine Chance zur urbanen und musikalischen Neuorientierung zwischen den multiplen Aufführungsorten und ihren Performance-Angeboten. Die nämlich stellen offenen Ohres Gewordene eher vor die Qual der Wahl. Locken sie doch unbedingt mit ihrer Heterophonie von kryptischen bis lyrischen Nuancen, Düften und Klängen: So etwa Die Hörbar mit Unüberhörbar: futureduckcompany. Studio KO-OP mit Sonic Toy Lab und X-NAVI:ET. WEISSER RAUSCH mit Bunkerrauschen: Schatten aus dem Lautsprecher. Polarraum mit Nordlichter im Polarraum. Die Kachelbar mit OHRMASCHINE. Freitagsmusik mit zerknittern! und Das alltägliche Selbstsein… Neben solch lettristisch-surrealistisch lautenden VeranstaltungSORTen verfremden sich kontextuell designierte Orte mit neuen Tönen: Das Westwerk mit Stark Bewölkt. Das Centro Sociale mit h7. Das Gängeviertel mit Frequenzgänge und GeHörGänge/ VoiceNavigations. St. Petri mit STIMMUNG. Die Hamburger Botschaft mit Audiovisuelle Supernova. Die opera stabile mit unheimlich schwer… Wo soll das sein?! Wer steckt dahinter? Nein, mehr wird hier nicht verraten. All das ist in handlicher Form für Hand- oder Westentasche in dem kleinen roten Programmheft zu finden, welches als Spiel- und Höranleitung für vermeintliche Kenner und Nochnichtkenner zum musikalischen Umherschweifen bestens ihre Aufgabe erfüllt. Dabei werden HörgängerInnen möglicherweise dem Schall von Megaphonen nicht ausweichen können. Denn die von Laien gespielten 35 Megaphone des Orchesters für direkte Demokratie werden Kompositionen für 1-35 Megaphone nicht nur in der HfBK und der HfMT aufführen, sondern auch im öffentlichen Raum als DEMO durch die Hamburger Innenstadt: \„I have nothing to say and I’m saying it.\“ Um allerdings kantig-schubladigen Hörgewohnten sowie HörverweigererInnen nicht nur innerhalb der Hamburger Musikgeographie eine Chance zum lauschenden Umherschweifen zu geben, sondern weit aus der Ferne, sind von einzelnen VeranstalterInnen internationale MusikerInnen eingeladen. So werden 2011 das flämische Nadar Ensemble, das AKROS Percussion Collective aus Ohio und der in Italien lebende New Yorker Fluxus-Künstler Phil Corner in Hamburg zu erleben sein. Letzterer gleich mehrfach bei Konzerten und seiner Power-point-lecture \„the only silence is noise/the only noise is music\“. \„Wir schauen zurück und vorwärts auf eine Welt künstlerischer Kooperationen ohne künstliche Grenzen\“ sagt Phil Corner. https://www.artnotart.com/fluxus/pcorner-fluxisus.html Die für internationale Einladungen erforderlichen Zuschüsse werden von den einzelnen VeranstalterInnen ergänzend besorgt. Ansonsten wird Blurred edges seit 2009 vom Klangnetzwerk gefördert, dem Hamburger Projekt des bundesweiten Netzwerkes für neue Musik, deren Geschäftsführerin Tamara van Buiren ist. Das diesjährige Festival wird allerdings das letzte geförderte sein. Wie es weitergeht? Diese Frage ist für Heiner Metzger zurzeit noch nicht beantwortbar. \„Wir suchen nach einer neuen Perspektive. Eine weitere Förderung des blurred edges Festivals für 2012 konnte von Seiten der Kulturbehörde Hamburg bisher nicht in Aussicht gestellt werden.\“ Vielleicht eröffnet das Umherschweifen durch die unscharfen Klänge den unaufmerksamen Flaneures neue Wege und Perspektiven künstlerischen Seins und gesellschaftlichen Tönens. \„Arbeitet nie\“ war einer der Slogans situationistischen Umherschweifens. Und \„die Schönheit ist auf der Straße\“. Sicher bleibt und ist, vom 6. Bis 21.Mai 2011 sind detourniert-detournierende Klänge zu erleben, und situativ bleibt zu sagen: Hört zu! Text: Jorinde Reznikoff, erschienen im KLANG!-MAGAZINE Nr.6, April 2011. Sie können es hier kostenlos bestellen: http://www.klang-hamburg.de/magazin