Welt am Sonntag - Alles neu macht der Mai - auch in der Musik
VON ILJA STEPHAN Das Avantgarde-Festival "blurred edges" verspricht spannendeBegegnungen mit modernen Kompositionen Es regt sich, jenes "freche Denken", das Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter jüngst in der "Welt am Sonntag" für das Hamburger Musikleben eingefordert hatte. Allerdings regt es sich vor allem abseits der großen Institutionen: Das Avantgarde-Festival "Klangwerktage" etwa konnte unter neuer Leitung seine Zuschauerzahl verdoppeln. Und die Kampnagel-Fabrik, die sich als Musikspielstätte bestens etabliert hat, schmückt sich nun halb ironisch, halb hämisch mit dem Titel "Osterbekphilharmonie". Ähnlich frech tritt auch "blurred edges" auf. Das Festival für experimentelle, elektronische und improvisierte Musik, das in diesem Jahr vom 1. bis 15. Mai stattfindet, bezeichnet sich als "Hamburgs größtes Musikfestival". Und gemessen an der Zahl der Veranstaltungen, 43 Konzerte an 19 Spielorten, ist das die volle Wahrheit. Der Titel "blurred edges - unscharfe Kanten" ist Programm. Scharf gezogene Trennlinien haben hier keine Gültigkeit. Mitmachen darf jeder, der sich bis zum Stich-tag bei den fünf ehrenamtlichen Organisatoren angemeldet hat. Und auch die Grenzen der Genres und Künste werden bewusst verwischt: Klanginstallationen stehen neben Performances, Computermusik und Videoprojektionen neben "klassischen" Neue-Musik-Konzerten im schwarzen Frack. Doch ist bei "blurred edges" nicht nur die ganze Vielfalt der freien Musikszene in Hamburg vertreten. Die 19 Spielstätten zeigen die Hansestadt auch von den unterschiedlichsten Seiten: Die Hauptkirche St. Katharinen oder die barocke Christianskirche in Altona, das Gängeviertel, der Golden Pudel Club mit Blick auf Blohm und Voss, der Linke Laden beim Schlump oder die großbürgerliche Stadtvilla der Alfred-Schnittke-Akademie sind darunter. Zwei Wochen "blurred edges" sind ein besserer Weg, Hamburgs Schönheiten und seine versteckten Winkel kennenzulernen, als jeder Stadtführer. Vor allem aber ist "blurred edges" der beste Weg zu neuen Klangerlebnissen. Man kennt die Namen Gubaidulina und Schnittke, aber dass Hamburg ein echtes Zentrum für russische Musik und Musiker ist, ist kaum publik. In der Christianskirche und der Schnittke-Akademie widmet man sich 2010 diesem Aspekt: Neben dem exzellenten Pianisten Alexei Lubimov wird unter anderem Musik von Ustvolskaya und Gubaidulina zu hören sein. Mit Vladimir Martynov und Valentin Silvestrov werden außerdem zwei wichtige Vertreter der Post-Moderne in Russland porträtiert. Das Gängeviertel war in den letzten Monaten ein beliebtes Medienthema. Mit acht Konzerten wird "blurred edges" nun erstmals auch an diesem Brennpunkt der Hamburger freien Szene vertreten sein. Dabei zeigt sich, wie sehr das Off-Festival inzwischen mit der etablierten Neue-Musik-Szene in Hamburg vernetzt ist: So werden Studierende der Klasse Multimediale Komposition der Musikhochschule am Valentinskamp ihre Werke vorstellen. Und das Ensemble Resonanz spielt Musik des diesjährigen Hamburger Composer-in-Residence, Georges Aperghis, sowie von Alvin Curran und Nikolaus Gerszewski. Im Klang!-Container an den Deichtorhallen verfolgt das Ensemble Intégrales derweil "Spuren aus China". Wieder in eine völlig andere Musikwelt und ein anderes Stadt-viertel führen die Klänge, die in der "Hörbar", einem alten Hinterhofkino in St. Pauli, aus den Lautsprechern kommen. Hier tummeln sich die Freunde der elektronischen und Computermusik. "Do-it-yourself-Music" nennt etwa das Londoner Duo "Sculpture" seine audiovisuellen Collagen, die dort am 7. Mai zu hören und zu sehen sein werden. Welt am Sonntag, 25. April 2010