Hamburger Abendblatt: Hamburgs kleinstes großes Avantgarde-Festival
Auf den ersten Blick würde der Mann mit dem Grobkarohemd und den verwitterten Gesichtszügen unter einer Gruppe Hafenarbeiter, die ihr Feierabendbier trinken, nicht weiter auffallen. Erst wenn er zu reden beginnt, klar, in perfektem Deutsch und pragmatisch an den jeweiligen Bildungsstand seiner Hörer angepasst, spürt man etwas von feinsinniger angelsächsischer Gelehrtentradition. Christian Wolff, in Harvard studierter Altphilologie-Professor und Komponist, eröffnete mit einem Vortrag über seine musikalische Entwicklung das diesjährige "blurred edges"-Festival für aktuelle Musik. Was Wolff zu berichten hatte, war den eingefleischten Avantgarde-Experten unter seinen Hörern gewiss nicht neu, aber es ließ gleichwohl etwas vom Geist der 50er-Jahre in New York lebendig werden. In den Lofts und Ateliers von downtown New York hatten seinerzeit Maler wie Robert Rauschenberg oder Jasper Johns und Musiker wie John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff jene Kunstbewegung geprägt, die man heute unter dem Titel "New York School" kennt. Jene Unvoreingenommenheit und fast kindliche Entdeckerfreude, mit der man damals daran ging, die Musik neu zu denken, strahlt Wolff bis heute aus. Für ein Festival wie "blurred edges" ist Wolff damit das ideale Aushängeschild. Seit drei Jahren gibt es nun diese Initiative der freien Hamburger Musikszene, in der sich alle zusammentun, die in der Hansestadt an elektronischer Musik, Improvisation oder Klangkunst interessiert sind. Musiker wie den Experimentalgitarristen Keith Rowe oder den Wiener Komponisten Peter Ablinger hatte man in den vergangenen Jahren zu Gast. Von der breiteren Öffentlichkeit unbemerkt, hat sich in Galerien, Kneipen und Klubs abseits der etablierten Konzertreihen etwas entwickelt, das man mit rund 40 Konzerten an 18 Tagen bei einem Etat von maximal 20 000 Euro als die größte, auf jeden Fall aber als die günstigste Erfolgsstory des gegenwärtigen Hamburger Musiklebens bezeichnen darf. Im Mittelpunkt des Festivals vom 10. bis 27. April steht selbstverständlich Wolff, der am 12. April mit dem Pianisten John Tilbury in der Christianskirche Altona eigene Werke spielen wird. Ebenfalls wieder in der Stadt ist der ungarische Geiger Janós Negysey, den die FAZ einmal als "einen der größten Interpreten zeitgenössischer Musik" beschrieben hat. Negysey wird mit seinem Paradestück, den exorbitant schwierigen "Freeman Etudes" von Cage, am 15. April in der Christianskirche zu hören sein. Zu den "lokal heroes", die auch dieses Jahr wieder bei "blurred edges" mitmachen, zählen Michael Petermann, der für sein "Wohlgeneriertes Clavier 2" am 15. April die Schnitger-Orgel in St. Jacobi gesampelt hat, oder der Hamburger Elektroniktüftler Asmus Tietchens, der am 24. April im Skam auf der Reeperbahn einen Abend mit der Projektionskünstlerin Karin Bethge gestalten wird. Der Tipp für Weltmusikfreunde: das Percussion-Projekt "Africa goes Korea" am 18. auf Kampnagel. ist Hamburger Abendblatt,erschienen am 12. April 2008