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KLANG Magazin: DAS LEBEN SAMMELN

von Ilja Stephan. Um Hamburg von seiner repräsentativsten Seite zu sehen, kann man an den Jungfernstieg und die Elbchaussee gehen oder über Europas größte Bausstelle in der Hafencity lustwandeln. Wer aber Hamburg von seiner interessantesten Seite kennen lernen will, muss unter die polierte Oberfläche der Stadt sehen. Subkultur, das war in den 60ern mal die Stricherkneipe im Tiefparterre, der Hubert Fichte in seinem Roman \„Die Palette\“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Und der Rumpelkeller unter dem Tor zur Welt, das war Harrys Hafenbasar in der Bernhard-Nocht-Straße. In Harry Rosenbergs labyrinthischen Kellergewölben gab es mehr und Kurioseres aus aller Herren Länder zu sehen als in jedem Völkerkundemuseum: Afrikanische Schnitzerein, exotische Musikinstrumente, zerlesene Schmöker, groteske Südseemasken, riesige Muscheln, eine ausgestopfte Giraffe und über der Ladentheke einen veritablen Schrumpfkopf. Alles, was die Seeleute an Kunst, Kitsch und Kostbarkeiten nach Hause brachten, sammelte sich in den verwinkelten Katakomben von Harrys globalem Flohmarkt und türmte sich dort in übervollen Regalen zu einem chaotischen, überquellendem und mitunter etwas streng riechendem Inventar des ungeschminkten Lebens. Wer Mut hatte, in Harrys unterirdisches Kuriositäten-Universum hinabzusteigen, fand dort eines der größten Abenteuer, das Hamburg passionierten Sehleuten zu bieten hatte. Heute findet sich am alten Standort von Harrys Hafenbasar mit dem Erotic-Art-Museum eine blankgeleckte Touristenattraktion. Kiez, Koberer und die vermarktete Lust selber sind museal geworden. Aber wer als Ohrenmensch in dieser Stadt auf die Suche nach akustischen Abenteuern oder einem krassen Kick geht, wird in diversen Winkeln und Ecken noch immer fündig. Wie ein Archipel sind die verschiedenen Veranstaltungsorte für experimentelle Musik über Hamburg verstreut. Man findet sie in verwaisten Bausünden, Weltkriegsbunkern, alten Kontorspeichern oder spätbarocken Schmuckkästlein: Am östlichen Ende der Reeperbahn etwa steht ein abrissreifer Betonklotz, die früher den legendären Mojo-Club beherbergte. Heute betreibt hier die Atelier- und Künstlergemeinschaft SKAM einen 90qm großen \„White Cube\“ ohne Heizung und mit einer Autorückbank als bequemster Sitzgelegenheit. Einen ähnlichen Charme verbreitet auch der Kunstraum Ebene 14 in den öden Betonschluchten der City-Nord, wohin die koreanische Stimm-Performerin Ge-Suk Yeo Improvisationsmusiker aus aller Welt einlädt. Buchstäblich meterdicken Beton gibt es im Weltkriegsbunker auf dem Heiligengeistfeld. In dessen verwinkelten Gängesystem und Treppenhausschächten realisiert der ehemalige Kirchenmusiker Michael Petermann Projekte wie eine klingende Vergangenheitsbewältigung unter dem Titel \„Deutschlandlied\“ oder die Reihe \„Bunkerrauschen\“. Doch es geht auch häuslicher. Eine sehr studentische Form von Gemütlichkeit zeichnet den Linken Laden in der Nähe des Schlump aus. In einem winzigen Hinterzimmer mit noch winzigerer Bühne veranstaltet Sylvia Neckar ihre \„Freitagsmusik\“. Mal komplett in Alu-Folie eingepackt, mal mit Küchengerät bewaffnet, aber immer in Begleitung ihrer klingenden \„Raumstation\“ überrascht die \„Klangonautin\“ ihre Fangemeinde regelmäßig mit einem neuen \„Wort des Monats\“. Ein Tummelplatz für Laptopmusiker ist das B-Movie in St. Pauli, wo in einem alten Hinterhof-Kino die \„Hörbar\“ ihren Sitz hat. Hier taucht ab und an sogar der Grandseigneur der Hamburger Elektrofrickler, Asmus Tietchens, aus seiner selbst gewählten Versenkung auf. Und von der eigenhändigen Uraufführung seines \„Dritten Klavierkonzert\“ durch einen verblendeten Dilettanten bis zu avancierter Computerkunst ist hier so ziemlich alles zu hören, was man mit einer Tastatur anstellen kann. Gegen solche Spielstätten nimmt sich das Westwerk in der Admiralitätstraße beinahe hanseatisch traditionell aus. In dem historischen Kontorhaus, das früher der Deutschen Bank gehörte und später durch Hamburgs Hausbesetzter vor dem Abriss bewahrt wurde, lebt und arbeitet heute eine 17-köpfige Künstlergemeinschaft. Im Erdgeschoss des Westwerk, hinter einem massiven Holztor liegt ein großer Lagerraum, der auch für Konzerte genutzt wird. – Dass die hohe Kunst dabei häufiger mal mit dem Klang eines rauschenden Abwasserrohrs konkurriert, freut allerdings nur puristische Cage-Fans. Ein Ort, wo die Zeit vollständig stehen geblieben zu sein scheint, ist schließlich die barocke Christianskirche am Altonaer Klopstock-Platz. Der Dichterfürst liegt auf dem Friedhof vor dem schmucken Kirchlein begraben, und drinnen hält ein Engel segnend einen Lorbeerkranz über den Altarraum. Hier finden die Konzerte des \„Forum Neue Musik\“ statt, das der Maler Milo Lohse und der Musiker Nikolaus Gerszewski unter dem weit gefassten Generalnenner \„Musik und Spiritualität\“ veranstalten.So verschieden wie die Spielstätten sind auch die ästhetischen Positionen, die Interessen Vorlieben und Ansprüche der diversen Hamburger Formationen. Um die Veranstalter der \„Hörbar\“, Kera Nagel und André Aspelmeier, scharen sich betont anti-akademische Laoptop-Künstler, deren Zugang zum Reich der Töne bevorzugt über das Medium Computer führt. Daneben finden sich Improvisationsmusiker mit Metier wie die Trompeterin Birgit Ulher, den Saxofonisten Heiner Metzger oder den Spacedrummer Hinnerk Börnsen. Es gibt idealistisch betriebene Ensembles wie den \„Nelly Boyd Kreis\“, der vor allem das Erbe eines der Hausgötter der Avantgarde, John Cage, pflegt. Es gibt professionelle Ensembles, die sich bevorzugt der Uraufführung neuester Musik widmen, wie die Formationen \„trigger\“ und \„Ensemble Integrales\“. Es gibt das Komponistenkollektiv \„Katarakt\“, mit einem direkten Draht zu den großen alten Herrn der Minimal Music. Viele dieser Gruppen und Ensembles sind dabei Veranstalter, Festivalorganisatoren, Musiker und häufig auch Publikum in eigener Sache.Diese Zersplitterung in kleine Gruppen war lange das große Problem der freien Musikszene in Hamburg. Die Liste der bedeutungslos gebliebenen Verbandsgründungen ist beinahe so lang wie die Liste mehr oder minder langlebiger Festivals, die in den letzten zwei Jahrzehnten gegründet wurden: LudwigLust, Real Time Music Meeting, Pur oder Plus, Hörwelten, Ausklang etc. Was nicht vorher schon eingestellt worden war, fiel nach 2001 vielfach dem Rotstift der damaligen Kultursenatorin Dana Horákóva zum Opfer. Geblieben ist das Problem, einer Szene von Individualisten, die vor allem \„ihr Ding\“ machen wollen, eine gemeinsame Vertretung zu schaffen. Eine Teil-Antwort auf diese Herausforderung ist der 2004 gegründete \„Verband für aktuelle Musik\“ (vamh). Seinen Wesen nach ist der \„vamh\“ eine offene Plattform. Auf der Website des Verbandes kann sich formlos jeder eintragen, der will. Mitgliedsbeiträge und Vereinssitzungen gibt es nicht. Im Wesentlichen sammelt der Verband also auf seiner Website die verschiedene Internetauftritte und Konzerttermine. Und statt eines Vorstandes gibt es \„eine Gruppe von sechs Leuten, die sich bereit erklärt haben, die Arbeit zu machen\“, wie die Komponisten Dodo Schielein es ausdrückt. Zu dieser Arbeit zählt die Organisation einer Vortragsreihe mit Positionen der aktuellen Musik und die Vertretung des Verbandes gegenüber Kulturbehörde und Medien. Die größte Arbeit aber ist die Koordination des 2006 gegründeten Festivals \„blurred edges\“ (unscharfe Kanten). Dieser Name ist Programm. Am besten definiert man \„blurred edges\“ über das, was es nicht hat. Es ist ein Festival ohne zentrale Leitung: kein Intendant, kein Programmplaner, keine bestimmte ästhetische Linie – und in den ersten Jahren auch so gut wie kein Etat. Das Festival ist ebenso eine offene Plattform wie der \„vamh\“ selbst. Für ein gemeinsames Zeitfenster von rund zwei Wochen kann jedes Verbandsmitglied auf der Homepage seine Veranstaltungen eintragen. Was bis zum Anmeldeschluss dort eingegangen ist, das ist \„blurred edges\“. Vertreten sind das klassische Neue-Musik-Konzert mit dem Pianisten im Frack ebenso wie der Improvisationsabend für \„diverse Klangerzeuger\“ und Live-Elektronik. Genregrenzen gelten nicht und auch die Künste werden bewusst vermengt. – Im Idealfall gelingen dann Momente, wie jene Improvisations-Nacht bei der die gesampelte Geräuschkulisse des Hagenbecker Elefantengeheges aus der Soundkarte von Gregory Büttner eine faszinierende Synthese einging mit den in einer Wasserschale verwirbelnden Tintentropfen, die die bildende Künstlerin Karin Bethge dazu an die Wand des SKAM projizierte.Rechnet man in Festival-Tagen geht es mit \„blurred edges\“ (fast) kontinuierlich bergauf: Nach 11 Tagen in 2006, 12 in 2007 und 18 in 2008 ist man 2009 bei 16 Tagen vom 1. bis 16 Mai angekommen. Und auch die Medien kriegen von der Sache langsam Wind. Die \„taz\“ bemerkte das Festival als erstes, das \„Hamburger Abendblatt\“ zog nach. Im zweiten Jahr seines Bestehens war \„blurred edges\“ dann mit langen Features bei Deutschlandfunk und Deutschlandradio vertreten. Und 2008 entdeckte selbst das Hausorgan des Bildungsbürgers, die FAZ, das Festival als den Ort, wo \„die sonst versteckte Hamburger Alltagskultur verdichtet wiedergegeben\“ werde. Dabei geht es genau genommen bei \„blurred edges\“ weder alltäglich zu, noch kommen alle Beiträge aus Hamburg. Einer der Vorzüge des Festivals ist, dass Organisatoren, die neue Musik lieben und leben, ihre Kontakte und die knapp bemessenen Reisemittel dazu nutzen, um Musiker in die Stadt zu holen, die den etablierten Neue-Musik-Veranstaltern zu speziell sind. So lud die Cage-Fraktion 2008 den letzen Vertreter der New-York-School, Christian Wolff, nach Hamburg ein. Und mit dem Pianisten John Tilbury oder dem Experimentalgitarristen Keith Rowe waren immer wieder Musiker aus der heroischen Zeit der neuen Musik bei \„blurred edges\“ zu Gast. Dazu kommen aktuelle Insidertipps wie der Wiener Peter Ablinger und eine Vielzahl von Gästen aus der Improvisations- und Elektronikszene. Finanziell gesehen geht es \„blurred edges\“ im vierten Jahr seines Bestehens besser als je zuvor – was nicht heißt, dass es dem Festival gut ginge. Dank der Kooperation mit \„Klang!\“, dem Hamburger Ableger des \„Netzwerk Neue Musik\“, verfügt man über einen Etat von EUR 22.000. Doch sind dafür Anträge zu schreiben, Zahlen und Berichte vorzulegen und es bedürfte eigentlich einer gesamtverantwortlichen Leitung. Für ein loses Sammelsurium privater Initiativen, wie es das Wesen und den Zauber von \„blurred edges\“ ausmacht, sind die Strukturen und Amtswege der deutschen Kulturförderlandschaft jedenfalls ein unwegsames Gelände. Das Festival floriert trotzdem: Der altgediente \„Nelly Boyd Kreis\“ hat für 2009 die französische Pionierin der elektronischen Musik Éliane Radique eingeladen, und die im Vorjahr gegründete \„Projektgruppe aktuelle Musik\“ holt deren japanischen Kollegen Taku Unami und die Briten Tim Parkinson und James Saunders nach Hamburg. Michael Petermann spielt bei seinem \„Bunkerrauschen\“ Ligeti, Steve Reich und Phil Glass auf Disklavier und Cembalo. Und seit mit Georg Hajdu auch ein Professor der Musikhochschule eine Veranstaltung bei \„blurred edges\“ organisiert, schrumpft nun wohl auch die Distanz zur institutionalisierten Neuen-Musik-Szene der Stadt. Im \„Forum Neue Musik\“ in der Christianskirche erinnert ein Auftritt von Victor Suslin und Sofia Gubaidulina daran, dass wichtige Vertreter der russischen Avantgarde in Hamburg ihre zweite Heimat gefunden haben. Mit Wjatscheslaw Artjomow und Suslin hatte Gubaidulina 1975 das Improvisationsensemble \„Astreja\“ gegründet. Auf einer ausufernden Sammlung aus kaukasischen und asiatischen Folklore-Instrumenten, Spielzeuggitarren und Selbstgebautem stießen die drei damals in das als formalistisch verdammte Reich der neuen Klänge vor. Sie experimentierten mit grafischer Notation und spielten in Jazz-Kellern, wo ihre Musik den Kulturoberen nicht genehm war. Subkultur, das waren im Moskau der 1970er-Jahre die Auftritte von \„Astreja\“. Heute ist Sofia Gubaidulina weltbekannt und lebt in Appen-Unterglinde bei Hamburg. Aber im Rahmen von \„blurred edges\“ lässt sie am 9. Mai mit Suslin und dessen Sohn Alexander \„Astreja\“ noch einmal aufleben. Während die Stadt also wächst und eine neue Fassade aus Glas und Stahl bekommt, gibt es unter ihrer Oberfläche noch immer Entdeckungen zu machen, Originale zu finden und Dinge, die einen gewachsenen Charakter haben. Für 16 Tage im Mai wird Hamburg dank \„blurred edges\“ zum globalen Klangbasar mit mehr als 30 über die Stadt verstreuten Winkeln und Nischen, in denen Klänge, Kunst und Kurioses aus Hamburg und der Welt zu einer bunten, ungefilterten, in seiner Art einmaligen Bestandsaufnahme des klingenden Lebens versammelt sind. Erschienen in: Klang!-Magazin 2, April-September 2009, S. 12 - 15. https://www.klang-hamburg.de

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